Das Gefängnis in Deutschland – ein Überblick
Umfang und Einordnung: Gegenstand des deutschen Strafvollzugs ist die Vollstreckung der gerichtlich verhängten Freiheitsstrafe. Dazu gehört im weiteren Sinne aber auch die Jugendstrafe ebenso wie die Ersatzfreiheitsstrafe. Keine Freiheitsstrafe ist die Ordnungs- oder die Erzwingungshaft (sogenannte Zivilhaft.) Es gelten für diese Haftform besondere Vorschriften beispielsweise bezüglich der Sicherheit. Vom Strafvollzug zu unterscheiden ist auch der Maßregelvollzug.
In Deutschland: gibt es 186 eigenständige Justizvollzugsanstalten. In Hessen gibt es 16 Gefängnisse mit knapp 600 Plätzen. Die Besonderheit in Hessen ist das erste deutsche teilprivatisierte Gefängnis in Hünfeld.
Internationaler Vergleich zu Gefangenenrate: Deutschland hat einen Anteil von 88 Gefängnisinsassen pro 100.000 Einwohner_innen, das heißt etwas weniger als 1 Promille. Das ist für liberale Demokratien eher im unteren Mittelfeld – zum Vergleich, die Statistik wird mit weitem Abstand angeführt von den USA, dort sind es 753 Gefangene pro 100.000 Einwohner_innen. In Europa hat die höchste Gefangenenrate Russland mit 610. Wenn wir das deutsche Gefängnissystem kritisieren, dann nicht vor allem aufgrund seines quantitativen Ausmaßes – sondern aufgrund seiner strukturellen Funktion etwa bei der gesellschaftlichen Verwaltung von Armut.
Statistiken zur Anzahl der Inhaftierten: gibt das Statistische Bundesamt heraus, die so genannte Strafvollzugsstatistik. Insgesamt gab es in Deutschland am 31. März 2013 rund 56 000 Strafgefangene. Der Großteil von ihnen war männlich (94 %) und wurde zu einer Haftstrafe zwischen einem Jahr und fünf Jahren (45 %) verurteilt.
Erfassung nach Stichtagen: Es ist wichtig, dass die Gefängnispopulation hier an einem Stichtag, dem 31.3. eine Jahres, gezählt wird. Es wird also nicht erfasst, wie viele Leute in das Gefängnis kommen oder es verlassen, sondern nur, wie viele an diesem Tag drin sind. Das führt dazu, das geringere Haftdauern tendenziell unterrepräsentiert sind: Wenn zum Beispiel in einem Jahr 12 Personen eine jeweils einmonatige Haftstrafe absitzen, so tauchen sie genauso als „1“ in der Statistik auf wie eine Person, die eine einjährige Haftstrafe absitzt. So fällt auf, dass das Gefängnis nicht vorwiegend der Einsperrung von Schwerverbrecher_innen, sondern der Verwaltung von „low intensity crime“ dient.
Was kann man an der Statistik sehen?
- Die größte Gruppe der Inhaftierten machen Haftstrafen unter neun Monaten aus (18.744), die zweitgrößte neun Monate bis zwei Jahre (13.650), usw. Auch das bestätigt, dass es im Gefängnis nicht vor allem um die Einsperrung von Schwerverbrecher_innen, sondern um die Verwaltung von Kleinkriminalität geht.
- Es gibt bei Gefängnisstrafen eine extrem hohe Rückfallquote: Ca. 40.000 der 56.000 Inhaftierten waren bereits vorbestraft, das sind über 70 Prozent, davon die größte Gruppe zwischen 5 und 10 Mal. Das allein weckt Zweifel daran, ob das Gefängnis ein geeignetes Mittel ist, Kriminalität in der Gesellschaft zu reduzieren.
- Der Großteil der Delikte, wegen denen Inhaftierte eine Freiheitsstrafe verbüßen, sind Eigentumsdelikte wie Diebstahl oder Raub (ca. 27.000, das sind fast 50 Prozent). Eine weitere extrem große Deliktgruppe sind Vergehen nach dem Betäubungsmittelgesetz (7562). Delikte gegen das Leben wie Mord und Totschlag sind die Minderheit (4144). Wir sollten also unser Bild des Gefängnisses korrigieren, wonach das Gefängnis vor allem dazu dient, uns vor Mördern und Vergewaltigern zu schützen.
- Soziale Differenzierung des Strafbedürfnisses: Während etwa Drogendelikte hart bestraft werden, wird Steuerhinterziehung kaum mit Gefängnisstrafen geahndet: Strafgefangene, die wegen einer Straftat nach der Abgabenordnung verurteilt wurden, machten weniger als 1 % aus.
Ersatzfreiheitsstrafen: sind Gefängnisstrafen, die Menschen verbüßen, die eigentlich zu einer Geldstrafe verurteilt wurden, diese aber nicht zahlen können. Das häufigste Vergehen ist zum Beispiel das Fahren ohne Fahrschein (nach der aktuellen Zählung zum Stichtag 31.3.2013 saßen wegen strafrechtlicher Handlung zum Delikt nach § 265a StGB insgesamt 1.411 Personen ein). Zurzeit sitzen in Deutschland 4188 Inhaftierte (6,5 % der Inhaftierten) eine Ersatzfreiheitsstrafe ab. Da Ersatzfreiheitsstrafen tendenziell kurze Strafen sind, dürften sie bei Stichtagszählungen deutlich unterrepräsentiert werden. Über die absoluten Zahlen von Ersatzfreiheitsstrafen pro Jahr in Deutschland können auf Basis der aktuellen Zahlen laut Strafvollzugsstatistik keine Aussagen mehr getroffen werden. Die Zugänge wegen Ersatzfreiheitsstrafe werden seit 2003 nicht mehr erfasst. Die Geschäftsstatistik über den Bestand der Gefangenen und Verwahrten in den Justizvollzugsanstalten wies im Berichtsjahr 2002 etwa 56.000 Zugänge zur Verbüßung von Ersatzfreiheitsstrafen aus, das sind etwa genauso viele Menschen wie überhaupt im Gefängnis sitzen. Die Institution der Ersatzfreiheitsstrafen setzt also extrem viele Menschen dem Gefängnis aus, mit den entsprechenden psychologischen und materiellen (möglicher Verlust der Wohnung, familiäre Konflikte, etc.) Konsequenzen.
Was folgt daraus?
- Wir sollten unser Bild von der Gefängnispopulation ändern. Schaut man sich allein die Deliktgruppen und ihre statistische Verteilung an, so wird deutlich, dass das Gefängnis eine bestimmte Weise ist, wie eine Gesellschaft mit politischen Fragen umgeht: Eigentum, Beziehungsweisen, Rauschpraktiken, Mobilität. Zu diesem eingespielten Umgang mit Devianz gibt es Alternativen.
- Kriminalität lässt sich auf gesellschaftliche Ursachen zurückführen. Zum einen, weil etwas zunächst nur deshalb als kriminell angesehen wird, weil es eben kriminalisiert wird. Das drastischste Beispiel ist das Betäubungsmittelgesetz: Würde der Staat seinen Bürger_innen erlauben, selbst zu entscheiden, welche Rauschmittel sie verwenden möchten und das BTMG einfach abschaffen, so würde direkt ein Achtel der Gefängnispopulation wegfallen. Aber auch materiell erzeugt die Gesellschaft systematisch bestimmte Umgangsweisen. Und schließlich haben die zahlreichen Eigentumsdelikte etwas mit der sozialen Absicherung und der Verteilungsgerechtigkeit zu tun – auch diese Kriminalitätsursachen ließen sich durch politische Maßnahmen bekämpfen.
- Das heißt aber nicht, dass eine Gesellschaft erreichbar oder auch nur erstrebenswert wäre, in der es gar keine Form von Devianz mehr gäbe. Aber die Analyse der Gefängnispopulation zeigt, dass das Gefängnis, mit Michel Foucault gesprochen, ein Delinquenzmilieu überhaupt erst erzeugt, das durch staatliche Maßnahmen gelenkt und administriert wird.
Kosten: Jeder Gefangene kostet den Staat pro Tag 100 EUR, das sind im Jahr ca. 36.000 EUR – sind mit solchen Ressourcen nicht bessere, kreativere und weniger gewaltförmige Lösungen mit Konflikten möglich?