Schuld, Schulden und die Straffreiheit der Armut

Die Ersatzfreiheitsstrafe legt einen engen Zusammenhang von Armut und Strafe offen. Denn mit dieser Form der Strafe werden jene inhaftiert, die nicht mehr in der Lage sind, entstandene Schulden zu begleichen. Darin manifestiert sich nun auch eine Verbindung von Schuld und Schulden, die auch für die Entstehung des Strafrechts wesentlich ist. Die gerade in der deutschen Sprache auffällige Nähe von Schuld und Schulden kann zum Ausgangspunkt einer Kritik gemacht werden, die nach dem Grund des Strafens fragt. Denn was bedeutet diese Nähe? Haben diejenigen, die ihre ökonomische Lage nicht in den Griff bekommen, auch moralisch versagt? Schulden sie nicht nur ihren Gläubigern etwas, sondern auch der Gesellschaft? Die ausgebliebene Tilgung von Schulden, soviel scheint klar zu sein, kann rechtlich gesehen nicht unbestraft bleiben. Damit wird nicht nur der Zahlungsdruck in der Gesellschaft aufrechterhalten, sondern zugleich unterstrichen, dass niemand seiner Strafe entgeht.

Doch was genau sind Schulden? Ökonomische Schulden sind jedenfalls zunächst einmal nicht als ein Exzess der Ökonomie anzusehen, sondern bilden einen wesentlichen Anteil innerhalb der Tauschökonomie. Sie sind nicht einfach nur Ausdruck einer gesellschaftlich oder individuell verursachten Krise, sondern stellen eines der ältesten ökonomischen Organisationsprinzipien dar. Aus den Schulden heraus kann nun auch die Frage der Schuld begriffen werden, die sich mit der ausgebliebenen Rückzahlung von Schulden stellt. Folgt man Nietzsches Überlegungen zum Zusammenhang von Schuld und Schulden in seiner Genealogie der Moral, so findet die Ökonomie (also die Geldwirtschaft, das Kreditwesen etc.) in der Moralität der Verpflichtungen und des Versprechens sowie in der Herausbildung eines schlechten Gewissens eine ihrer wichtigsten Voraussetzungen. Der Mensch ist Nietzsche zufolge dasjenige Tier, das versprechen kann. Im Fall der ökonomischen Verschuldung bedeutet das – ganz anschaulich –, dass der Schuldner sich eben auch seiner Schuld erinnert, dass er verspricht, seine Schulden zu begleichen und damit nicht nur seine Schulden, sondern auch seine Schuld abzutragen. Nietzsche erkennt darin nicht nur die Grundlage für die machtvolle Ausbreitung des Christentums, sondern auch eine der Grundlagen moderner Rechtsstaatlichkeit.

Nun stellt sich die Frage, wann das Recht überhaupt in den Zusammenhang von Schuld und Schulden eingreift? Wann wird Verschuldung strafbar und woher stammt das Strafbedürfnis in Bezug auf Verschuldung sowie die gesellschaftliche Akzeptanz, verschuldete Personen auch zu inhaftieren? Anhand einer Art Urszene kann der Zusammenhang von Schuld, Schulden und Strafe noch einmal nachvollzogen werden. Diese beginnt mit einem einfachen Leihgeschäft, aus dem folglich ein Schuldner und ein Gläubiger hervorgehen. Solange die Schulden auch rechtzeitig wieder beglichen werden, scheint diese Szene selbst eher undramatisch. Doch was passiert im Falle der ausbleibenden Schuldentilgung? Was macht der Gläubiger im Fall des Vertragsbruchs? Hier spitzt sich die Lage zu: die Schwierigkeit besteht nun zum einen darin das Verhältnis von Schuld und dem durch die ausbleibende Rückzahlung entstandenen Schaden zu bestimmen. In Bezug auf eine Bestrafung des Schuldners muss ein Äquivalent von Strafe und Schuld gefunden werden, um das Strafmaß bemessen zu können. Dem Schuldner muss aus der Perspektive des Gläubigers selbst ein Schaden, etwas mindestens ebenso Schmerzliches zugefügt werden, um wieder einen Ausgleich der Schuld zu gewinnen. Das bedeutet nun auch, dass der Gläubiger eine Äquivalenz der beiden Schäden, das heißt eine Gleichwertigkeit der zu verschmerzenden Schuld und der schmerzhaften Strafe voraussetzt. Die Tilgung der Schuld, also jener Schuld, die durch die nicht zurückgezahlten Schulden entstanden ist, folgt nach Nietzsche einer Ökonomie der Grausamkeit. Der Gläubiger erhält ein Recht darauf, dass sein erlittener Schaden, im Schmerz der Strafe Wiedergutmachung findet. Anstatt seines Geldes erhält der Gläubiger das Wohlgefühl des Strafens. Die Strafe stellt beide Seiten gleich.

Die auch für das moderne Recht relevante Idee, wonach Schuld und Strafe äquivalent sind, besitzt somit eine grausame Vorgeschichte. Es ist dieses Verhältnis von Gläubiger und Schuldner, aus dem das Rechtsverhältnis hervorgeht. Die Individuen werden darin zu Rechtspersonen und damit gleich vor dem Gesetz. Das Anrecht des Gläubigers auf Grausamkeit wird auf den Staat übertragen und dieser wird zum übergeordneten Gläubiger, der die Tausch- und Vertragsverhältnisse gewährleistet. Dieser zivilisatorische Prozess hat dabei zwei Folgen: zum einen wird der Schuldner durch das Rechtsverhältnis und das Strafrecht vor der Grausamkeit und dem Zorn des geschädigten Gläubigers geschützt, da sich letzterer nicht mehr maßlos über den Einzelnen ergehen kann. Das Recht schützt durch seine neue Strafrechtsordnung den Straftäter vor dem individuellen Zugriff auf ihn, indem andere Formen von Bestrafung, andere Äquivalente für die Bestrafung der Straftat gefunden werden, wie etwa die Geld- oder Freiheitsstrafe. Zum anderen nimmt der Staat dem Gläubiger das Vorrecht, ein Äquivalent für seinen entstandenen Schaden zu bestimmen und sorgt mit staatlichen Mitteln dafür, dass die Schulden wieder zurückgezahlt werden. In diesem Sinne wird die Grausamkeit im Strafrecht im doppelten Sinne aufgehoben.

In heutigen Rechtsordnungen bestimmt bekanntlich die Menschenwürde das Maß der Strafe. Diese darf demnach weder grausam noch erniedrigend sein. Es gilt zwar weiterhin das Schuldprinzip als Grundsatz des Strafens: nulla poena sine culpa. Doch es verlangt, dass jede Strafe in einem gerechten und angemessenen Verhältnis zur Schwere der Straftat und zur Schuld des Täters stehen muss. Indem die Schuld das Strafmaß limitiert, wird auch erreicht, dass die schuldangemessene Strafe nicht überschritten werden kann, insbesondere nicht, um andere potentielle Täter mit besonders harten Strafen abzuschrecken. Die Schuld ist insofern der legitimierende Grund und Zweck sowie gleichzeitig die äußerste Grenze der Anordnung und des Vollzugs der Strafe. Wie äußert sich dies nun in Bezug auf die Bestrafung derer, die sich ökonomisch verschuldet haben?

Historisch lässt sich der Zusammenhang von Schuld und Schulden vor allem anhand der so genannten Schuldentürme veranschaulichen. Ab dem 13. und bis zur Entstehung des modernen Gefängnissystems im 19. Jahrhundert waren diese Türme eine Art Erzwingungshaft zur Begleichung von Schulden, das heißt ein Sondergefängnis für diejenigen, die ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachgekommen sind. Vor der Einführung dieser öffentlichen Schuldhaft konnten säumige Schuldner auch in Schuldknechtschaft oder Privathaft gelangen, die oftmals mit der Möglichkeit einhergingen, diese Schulden wieder abzuarbeiten. Die Schuldhaft diente somit vorwiegend der Erzwingung der versäumten Leistungen und hatte zugleich die Funktion einen Angeklagten im laufenden Prozess zu verwahren, aber auch, ihn vor der möglichen Selbstjustiz der Gläubiger zu schützen. Die Einsperrung durch Schuldhaft war also zunächst nicht die Sanktionierung selbst wie im heutigen Freiheitsentzug. Diese Form der Bestrafung von Verschuldeten wurde in Europa im Laufe der 1860er Jahre abgeschafft. Seit Mitte der 1960er ist dies auch durch die Europäische Menschenrechtskonvention (16. September 1963, im Protokoll Nr. 4, Art. 1) sowie durch den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte normiert: „Niemandem darf die Freiheit allein deshalb entzogen werden, weil er/sie nicht in der Lage ist, eine vertragliche Verpflichtung zu erfüllen.”

Mit Blick auf die heutige Praxis der Ersatzfreiheitsstrafe kann jedoch gefragt werden, inwieweit diese nicht eine geradezu bizarre Wiedergeburt der ehemaligen Schuldgefängnisse darstellt. Die Ersatzfreiheitsstrafe ist der Fall, in dem sich die zunächst harmlos erscheinende Geldstrafe eben doch in die eigentlich als ultima ratio vorgesehene Haftstrafe wandelt. Der Zusammenhang von Schulden und Strafe findet hier eine, wenn auch ungewollte so doch faktische Fortsetzung. Im Fall der Ersatzfreiheitsstrafe scheint also eine andere Beschreibung und Kritik nötig, um die Frage der Schuldübernahme und die fehlende Bereitschaft zur Tilgung der Schulden zu erläutern. Die sozialen, politischen und ökonomischen Gründe für das Szenario der Ersatzfreiheitsstrafe werden dabei meist ignoriert. Eine Kritik der Ersatzfreiheitsstrafe stellt sich insofern nicht nur als eine Kritik des Zusammenhangs von Armut und Strafe sondern auch von Schuld und Schulden dar. Neben der rechtlichen und moralischen Anschuldigung und Verurteilung scheint die Ersatzfreiheitsstrafe als Form der Strafe nur durch eine Vielzahl anderer politischer und sozialer Interventionen abwendbar, die das Spektrum der Rechtsprechung überschreitet. Die Versachlichung von moralisierenden Disziplinierungen und Diffamierungen von armen Menschen, die sich mit meist geringen Beträgen verschuldet haben, ist dabei ein erster Schritt, um die individualisierende Responsibilisierung der Verschuldung durch Recht und Gesellschaft abzuwenden. Doch ohne eine andere Sozialpolitik, die die unverschuldeten Anteile der Schuldner sowie die Abwendung der Verschärfung der sozialen Situation von potentiellen Schuldnern nicht erkennt, kann der Zusammenhang von Schuld und Schulden, Armut und Strafe nicht durchbrochen werden. Die fatale Verbindung von Schuld und Schulden, in der Ersatzfreiheitsstrafe kann nur dann aufgebrochen werden, wenn sie als gesellschaftliche Problemlage gefasst und politisch problematisiert wird. Genau hier fängt Gefängniskritik und der Rückbau von Gefängnissen an.