Die Einsperrung – nicht der Ausbruch ist der Skandal

Erst der Gefängnisausbruch scheint der Situation in deutschen Gefängnissen wieder  öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Nachdem es zum Jahresbeginn in der Berliner JVA Plötzensee einigen Inhaftierten gelungen ist, zu fliehen bzw. im Rahmen des offenen Vollzugs zu ‚entweichen‘, wird wieder über den Zustand in den Haftanstalten und die Strafrechtspraxis diskutiert (hier ein Artikel in der Stuttgarter Zeitung). Meist jedoch nur mit Blick auf das fehlende Sicherheitspersonal, die überforderten Gerichte oder die Psychologie der Wiederholungstäter.

Statt nun die Sicherheitsvorkehrungen zu überprüfen und den Mangel an Resozialisierungserfolgen zu beklagen, wäre doch der deutlich sinnvollere Schritt, die Ersatzfreiheitsstrafe gleich ganz abzuschaffen und diejenigen Kleinstdelikte zu entkriminalisieren, für die der Großteil der Inhaftierten in Plötzensee einsitzen. Dass insbesondere die Ersatzfreiheitsstrafe ein Ärgernis darstellt, haben mittlerweile auch einige Gefängnisleiter, der Justizminister von NRW und der Berliner Justizsenator klargemacht. Auch der Deutsche Richterbund hat jüngst den Umgang der Verkehsbetriebe mit Personen, die ohne Fahrschein im öffentlichen Nahverkehr erwischt werden, in Frage gestellt (die ZEIT berichtet).

 

 

 

Wegsperren und Vergessen

In der heutigen Frankfurter Rundschau (4. Dezember 2017) findet sich eine Doppelseite zur Kritik des Strafens und der aktuellen Entwicklung der Strafrechtspolitik in Deutschland und den Niederlanden. Dass die Verschärfung des Strafrechts und die Ausweitung der Strafpraxis in Deutschland immer mehr Menschen, vor allem aus den unteren sozialen Schichten, dem Gefängnissystem aussetzt, hat weitreichende negative Folgen für das Soziale insgesamt. Ursache für diese Entwicklung ist nicht zuletzt der Rückbau des Sozialstaats und die Neoliberalisierung der Strafjustiz, so Franziska Dübgen im Interview. Eine andere Entwicklung zeichnet sich dagegen in den Niederlanden ab, wo es gelungen ist, die Häftlingszahl in den letzten Jahren stark zu senken – unter anderem, weil kleinere Strafen zum Teil ganz ausgesetzt werden konnten, wie Peter Riesbeck in seinem Beitrag schreibt.

 

 

 

Arbeitskämpfe in der JVA Butzbach

Die Forderung nach dem gesetzlichen Mindestlohn und Sozialversicherungsbeiträgen für Arbeit hinter Gittern wird bereits seit einiger Zeit von seiten der Gefangenengewerkschaft gestellt. Nun haben die gewerkschaftlich organisierten Inhaftierten der JVA Butzbach damit gedroht, – mangels Streikrecht – in den Hungerstreik zu treten, sollte ihrer Forderung seitens der Anstaltsleitung und des Justizministeriums nicht stattgegeben werden. Darüber berichtet haben unter anderem neues deutschland und die Frankfurter Rundschau sowie die Wetterauer Zeitung. Derzeit liegt der durchschnittliche Lohn von Inhafierten in Hessen bei 10,83 pro Arbeitstag. Von staatlicher Seite wird diese extrem niedrige Form der Entlohnung mit der Idee der Resozialisierung gerechtfertigt oder über den gesetzlich bestimmten ‚Haftkostenbeitrag‚ begründet, zu dem Gefangene im Fall des Gelderwerbs hinter Gittern herangezogen werden können. Die Gefangenengerwerkschaft kritisiert die Entlohnung der Arbeit von Inhaftierten als sittenwidrig und macht darauf aufmerksam, dass zahlreiche Firmen von den niedrigen Lohnkosten in den Haftanstalten profitieren. Die grundsätzliche Kritik der Gefangenengewerkschaft an den Arbeitsbedingungen in deutschen Gefängnissen findet sich hier zusammengefasst. Mittlerweile gibt es auch einen Aufruf von Unsterstützer_innen der Inhaftierten in Butzbach, der unterzeichnet werden kann.

Das Gefängnis in Deutschland – ein Überblick

 

Umfang und Einordnung: Gegenstand des deutschen Strafvollzugs ist die Vollstreckung der gerichtlich verhängten Freiheitsstrafe. Dazu gehört im weiteren Sinne aber auch die Jugendstrafe ebenso wie die Ersatzfreiheitsstrafe. Keine Freiheitsstrafe ist die Ordnungs- oder die Erzwingungshaft (sogenannte Zivilhaft.) Es gelten für diese Haftform besondere Vorschriften beispielsweise bezüglich der Sicherheit. Vom Strafvollzug zu unterscheiden ist auch der Maßregelvollzug.

In Deutschland: gibt es 186 eigenständige Justizvollzugsanstalten. In Hessen gibt es 16 Gefängnisse mit knapp 600 Plätzen. Die Besonderheit in Hessen ist das erste deutsche teilprivatisierte Gefängnis in Hünfeld.

Internationaler Vergleich zu Gefangenenrate: Deutschland hat einen Anteil von 88 Gefängnisinsassen pro 100.000 Einwohner_innen, das heißt etwas weniger als 1 Promille. Das ist für liberale Demokratien eher im unteren Mittelfeld – zum Vergleich, die Statistik wird mit weitem Abstand angeführt von den USA, dort sind es 753 Gefangene pro 100.000 Einwohner_innen. In Europa hat die höchste Gefangenenrate Russland mit 610. Wenn wir das deutsche Gefängnissystem kritisieren, dann nicht vor allem aufgrund seines quantitativen Ausmaßes – sondern aufgrund seiner strukturellen Funktion etwa bei der gesellschaftlichen Verwaltung von Armut.

Statistiken zur Anzahl der Inhaftierten: gibt das Statistische Bundesamt heraus, die so genannte Strafvollzugsstatistik. Insgesamt gab es in Deutschland am 31. März 2013 rund 56 000 Strafgefangene. Der Großteil von ihnen war männlich (94 %) und wurde zu einer Haftstrafe zwischen einem Jahr und fünf Jahren (45 %) verurteilt.

Erfassung nach Stichtagen: Es ist wichtig, dass die Gefängnispopulation hier an einem Stichtag, dem 31.3. eine Jahres, gezählt wird. Es wird also nicht erfasst, wie viele Leute in das Gefängnis kommen oder es verlassen, sondern nur, wie viele an diesem Tag drin sind. Das führt dazu, das geringere Haftdauern tendenziell unterrepräsentiert sind: Wenn zum Beispiel in einem Jahr 12 Personen eine jeweils einmonatige Haftstrafe absitzen, so tauchen sie genauso als „1“ in der Statistik auf wie eine Person, die eine einjährige Haftstrafe absitzt. So fällt auf, dass das Gefängnis nicht vorwiegend der Einsperrung von Schwerverbrecher_innen, sondern der Verwaltung von „low intensity crime“ dient.

Was kann man an der Statistik sehen?

  • Die größte Gruppe der Inhaftierten machen Haftstrafen unter neun Monaten aus (18.744), die zweitgrößte neun Monate bis zwei Jahre (13.650), usw. Auch das bestätigt, dass es im Gefängnis nicht vor allem um die Einsperrung von Schwerverbrecher_innen, sondern um die Verwaltung von Kleinkriminalität geht.
  • Es gibt bei Gefängnisstrafen eine extrem hohe Rückfallquote: Ca. 40.000 der 56.000 Inhaftierten waren bereits vorbestraft, das sind über 70 Prozent, davon die größte Gruppe zwischen 5 und 10 Mal. Das allein weckt Zweifel daran, ob das Gefängnis ein geeignetes Mittel ist, Kriminalität in der Gesellschaft zu reduzieren.
  • Der Großteil der Delikte, wegen denen Inhaftierte eine Freiheitsstrafe verbüßen, sind Eigentumsdelikte wie Diebstahl oder Raub (ca. 27.000, das sind fast 50 Prozent). Eine weitere extrem große Deliktgruppe sind Vergehen nach dem Betäubungsmittelgesetz (7562). Delikte gegen das Leben wie Mord und Totschlag sind die Minderheit (4144). Wir sollten also unser Bild des Gefängnisses korrigieren, wonach das Gefängnis vor allem dazu dient, uns vor Mördern und Vergewaltigern zu schützen.
  • Soziale Differenzierung des Strafbedürfnisses: Während etwa Drogendelikte hart bestraft werden, wird Steuerhinterziehung kaum mit Gefängnisstrafen geahndet: Strafgefangene, die wegen einer Straftat nach der Abgabenordnung verurteilt wurden, machten weniger als 1 % aus.

Ersatzfreiheitsstrafen: sind Gefängnisstrafen, die Menschen verbüßen, die eigentlich zu einer Geldstrafe verurteilt wurden, diese aber nicht zahlen können. Das häufigste Vergehen ist zum Beispiel das Fahren ohne Fahrschein (nach der aktuellen Zählung zum Stichtag 31.3.2013 saßen wegen strafrechtlicher Handlung zum Delikt nach § 265a StGB insgesamt 1.411 Personen ein). Zurzeit sitzen in Deutschland 4188 Inhaftierte (6,5 % der Inhaftierten) eine Ersatzfreiheitsstrafe ab. Da Ersatzfreiheitsstrafen tendenziell kurze Strafen sind, dürften sie bei Stichtagszählungen deutlich unterrepräsentiert werden. Über die absoluten Zahlen von Ersatzfreiheitsstrafen pro Jahr in Deutschland können auf Basis der aktuellen Zahlen laut Strafvollzugsstatistik keine Aussagen mehr getroffen werden. Die Zugänge wegen Ersatzfreiheitsstrafe werden seit 2003 nicht mehr erfasst. Die Geschäftsstatistik über den Bestand der Gefangenen und Verwahrten in den Justizvollzugsanstalten wies im Berichtsjahr 2002 etwa 56.000 Zugänge zur Verbüßung von Ersatzfreiheitsstrafen aus, das sind etwa genauso viele Menschen wie überhaupt im Gefängnis sitzen. Die Institution der Ersatzfreiheitsstrafen setzt also extrem viele Menschen dem Gefängnis aus, mit den entsprechenden psychologischen und materiellen (möglicher Verlust der Wohnung, familiäre Konflikte, etc.) Konsequenzen.

Was folgt daraus?

  • Wir sollten unser Bild von der Gefängnispopulation ändern. Schaut man sich allein die Deliktgruppen und ihre statistische Verteilung an, so wird deutlich, dass das Gefängnis eine bestimmte Weise ist, wie eine Gesellschaft mit politischen Fragen umgeht: Eigentum, Beziehungsweisen, Rauschpraktiken, Mobilität. Zu diesem eingespielten Umgang mit Devianz gibt es Alternativen.
  • Kriminalität lässt sich auf gesellschaftliche Ursachen zurückführen. Zum einen, weil etwas zunächst nur deshalb als kriminell angesehen wird, weil es eben kriminalisiert wird. Das drastischste Beispiel ist das Betäubungsmittelgesetz: Würde der Staat seinen Bürger_innen erlauben, selbst zu entscheiden, welche Rauschmittel sie verwenden möchten und das BTMG einfach abschaffen, so würde direkt ein Achtel der Gefängnispopulation wegfallen. Aber auch materiell erzeugt die Gesellschaft systematisch bestimmte Umgangsweisen. Und schließlich haben die zahlreichen Eigentumsdelikte etwas mit der sozialen Absicherung und der Verteilungsgerechtigkeit zu tun – auch diese Kriminalitätsursachen ließen sich durch politische Maßnahmen bekämpfen.
  • Das heißt aber nicht, dass eine Gesellschaft erreichbar oder auch nur erstrebenswert wäre, in der es gar keine Form von Devianz mehr gäbe. Aber die Analyse der Gefängnispopulation zeigt, dass das Gefängnis, mit Michel Foucault gesprochen, ein Delinquenzmilieu überhaupt erst erzeugt, das durch staatliche Maßnahmen gelenkt und administriert wird.

Kosten: Jeder Gefangene kostet den Staat pro Tag 100 EUR, das sind im Jahr ca. 36.000 EUR – sind mit solchen Ressourcen nicht bessere, kreativere und weniger gewaltförmige Lösungen mit Konflikten möglich?

Selbstmorde im Gefängnis

Der Guardian berichtet über die dramatisch hohe Anzahl von Suiziden unter Gefangenen in Großbritannien: In den letzten 20 Monaten haben sich 125 Menschen im Gefängnis umgebracht, das sind durchschnittlich sechs im Monat. In Deutschland ist die Situation sogar noch schlimmer: Zwischen 2000 und 2010 gab es laut dem Nationalen Suizid Präventionsprogramm in Deutschland 907 Suizide im Gefängnis, das sind 7,5 pro Monat – und das, obwohl in Deutschland insgesamt weniger Menschen im Gefängnis sitzen als in Großbritannien. Nur gibt es in Deutschland im Gegensatz zu Großbritannien keine öffentliche Diskussion darüber. (Hier nur ein Artikel aus dem Hamburger Abendblatt zur dortigen Situation und dem Vorschlag, die psychologische Betreuung von Gefangenen zu verbessern.)